Heldin im Verborgenen
von Ulrike Draesner
Ulrike Draesner, 1962 geboren in München, lebt als Romanautorin, Lyrikerin und Essayistin in Berlin (www.draesner.de). Ihr erstes Buch, ‚gedächtnisschleifen, Gedichte‘, erschien 1995. Weitere Gedichtbände, Erzählungen und Romane folgten (März 2014: Sieben Sprünge vom Rand der Welt). Gast- und Poetikdozenturen in Deutschland, der Schweiz, England und den USA. Mitglied des P.E.N Deutschland und der Nordrheinwestfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste. Für ihr Werk erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt den Literaturpreis Solothurn 2010, den Roswithapreis 2013 und den Joachim-Ringelnatz-Preis für Lyrik 2014.
Jeder, der es ein paar Mal gemacht hat, kennt den Effekt: kaum erzählt man die eigene Biographie in einer anderen Sprache – wird man eine andere. Ein wenig nur, gewiss – leicht, doch merklich verschoben. Die Übergänge zwischen den Sätzen vollziehen sich auf andere Weise, obwohl doch die ‚Fakten‘ einander gleich bleiben mögen; allein: hier scheint die Abfolge dringender geboten, dort unvermutet, zufälliger. Und fühlt man sich beim Erzählen nicht auch anders: blickt, unerwartet, neu auf einen sonst übersehenen Lebensabschnitt, wundert sich über sich selbst?
Das kleine Beispiel zeigt, dass unsere Sprache sehr wohl unsere Welt macht. Nicht nur an ihren Grenzen, wie das berühmt-berüchtigte Wittgenstein-Diktum besagt, nein – viel stärker noch, so mein Verdacht, innerhalb dieser Grenzen. Dass Geschlechtsbezeichnungen ihr Teil beitragen, wäre nur logisch; sie tun dies im normalen, also unbemerkten Sprachfließen im Chor mit anderen Kategorien, die wir zum Beispiel zur Identitätsbestimmung verwenden.
Ich war acht oder neun Jahre alt, als ich von einer Tante zu Weihnachten ein Buch mit dem Titel Heldin im Verborgenen bekam. Wer wohl Heldin war – die, natürlich, männliche Hauptperson mit dem langen ‚i‘ im Namen? Eines war für mich so klar, dass ich es vor Sonnenklarheit nicht bemerkte: Hauptfiguren von Büchern waren männlich, außer sie erschienen im Doppelpack (Hanni und Nanni), oder als Nesthäkchen. Ich las das Buch; dass Held-i-n nicht vorkam, wunderte mich zunächst nicht; der Titel sagte ja, dass er im Verborgenen handeln würde. Erst auf den letzten Seiten wollte ich daran nicht mehr recht glauben. Ich blätterte zum Ende – und begriff, dass das nervige Mädchen, das von Anfang an durch die Geschichte gehampelt war, die Hauptfigur sein musste. Und dass der Titel Heldin im Verborgenen lautete, mit kurzem ‚i‘. Heldinnen aber gab es nicht…
Heute spricht man davon, dass es in Kinder- und Jugendbüchern wichtig sei, sowohl Jungs als auch Mädchen Figuren anzubieten, mit denen sie sich identifizieren können. Doch sind Kinder darin vielleicht besser als wir glauben? Sprich: wenn Mädchen sich mit Jungs identifizieren können (lesende Mädchen und Frauen haben das über Jahrhunderte hin vorgeführt), warum sollten Jungs sich nicht in Mädchen zu spiegeln vermögen? And they can! An meinen drei Neffen habe ich das oft gesehen. Mehr als das: sie tun es lustvoll. Die imaginäre-phantastische Reise auf die andere Seite der Genderrollen erweitert die Welt. Denn eben das erlaubt Literatur uns wie kein anderes Medium: ich erfahre mich als andere/anderer/anderes. Ich bin das Tier, der Baum, die Vase. Bin der Chinese, der vor 2000 Jahren lebte. Gebt Jungen und Männern „Frauen“-Bücher zu lesen. Erlaubt Männern und Jungs, Röcke anzuziehen, wenn sie wollen. Und lasst uns Sätze ausprobieren wie: „Wer hat ihren Schmöker da liegen lassen?“
Erinnern Sie sich: auch das Wort „Kanzlerin“ klang anfangs sehr komisch.
—-
Ulrike Draesner haben wir für unser Radiofeature „Eine Lange Nacht der Geschlechterrollen“ für den Deutschlandfunk getroffen. Der folgende O-Ton ist ein Ausschnitt aus dem Interview im September 2014, in dem das Missverständnis um die Buchheldin schon einmal kurz zur Sprache kam: