Mund auf! – Zähne zeigen!

Unser letzter Besuch bei der Kieferorthopädin bietet Anlass für ein paar Zeilen zum Stichwort Normierung und wie sie sich in den Alltag schleicht:

Schöne Zähne – ein Wert an sich, wie’s scheint. Grade und weiß müssen sie sein, immerhin ist ‚Bleaching‘ eine Dienstleistung geworden, für die es sich nicht nur in Hollywood lohnt, eigene Praxen zu eröffnen. Aber bisher hatte das nichts mit unserem Alltag zu tun, dachte ich.

Zwei meiner drei Kinder haben bzw. hatten feste Zahnspangen. Das Jüngste (14 Jahre) braucht keine, weder aus Zahn- noch aus Kieferorthopädischer Sicht, das haben wir jetzt noch einmal prüfen lassen. Und bei diesem Termin erfahren wir:

Aus ästhetischer Sicht könnte man da aber schon was machen!

Kind sitzt dabei, hört mit. Na, danke. In drei! Gesprächen (okay, mit unterschiedlichen Kindern, aber trotzdem, meine Themenwahl war es nicht) geht es fortan um die Lücke zwischen den oberen Schneidezähnen. WO IST DAS PROBLEM? Die ist mini bei Kind 3, und sie war niemals Thema. Für das Kind selbst nicht, für uns nicht, gar nicht.

Zahnlücken-Alarm!

Aber jetzt, wo die Prophylaxeassistentin das Stichwort ‚Zahnlücke‘ in die Instrumentenschale geworfen hat, müssen wir das ausdiskutieren mit unseren Kindern. Sie bekommen Zweifel, wollen wissen, vergleichen mit anderen, überlegen, was vorher kein Thema war. Und so kommen wir mit ihnen von der Schönheit einer Zahnlücke auf die Fragen: Was IST denn überhaupt ’schön‘? Wer bestimmt darüber? Und wie wenig braucht es eigentlich, um aus der Normierungs-Mitte zu fallen?

Wir haben nämlich auch erfahren, dass der 13-Jährige Sohn der Prophylaxeassistenten seine Zahnlücke wird schließen lassen, weil er sie nicht schön findet. Die Kasse übernimmt nichts, also zahlen die Eltern. Seine Ohren findet er übrigens auch zu abstehend, erzählt sie, aber dafür sei ihr eine OP dann doch zu riskant, „Soo schlimm stehn die gar nicht ab“, die würden viel weniger auffallen, als er das behauptet.

Ich komme mit wackelnden Ohren aus dem Behandlungzimmer: Was ist da los in diesem Zahnspangen-Business? Ok, wir alle achten mehr darauf, was ja auch zahngesundheitliche Vorteile hat. Vielleicht weiß man inzwischen auch mehr um die Folgen auf den ganzen Körper, Haltung, Gelenke… wenn der Biss nicht stimmt. Gut. Aber warum spielen Zähne gesellschaftlich eine derart wichtige Rolle, dass wir bereit sind, 2/3 der Kinder eine Spange zu verpassen, sogar dann, wenn es aus medizinischer Sicht gar nicht nötig ist, weil keine funktionellen Beschwerden zu erwarten sind?

Reicht’s nicht langsam mit dieser Normierungs-Wut?

„Der weitaus größte Teil der kieferorthopädischen Behandlungen verfolgt ästhetische beziehungsweise psychosoziale Ziele.“

Studie der HKK*

Viele Behandlungen seien zwar wirksam, das heißt, sie verändern die Zahnstellung. Ob sie einem Patienten aber medizinisch wirklich nutzen, sei fraglich.

Jens Türp. Professor für Zahnmedizin an der Universität Basel und Sprecher für das Thema Zahnheilkunde beim Deutschen Netzwerk Evidenzbasierte Medizin (Quelle, Zeit.de)

Wie früh sind wir bereit (wer auch immer dieses Wir ist – die Mehrheit jedenfalls) , JA zu sagen zu Anpassungen, bzw. NEIN zu Abweichungen, weil wir Mobbing und Ausgrenzung befürchten anstatt dass es uns endlich gelänge, Vielfalt als Gewinn und etwas Positives zu vermitteln? (Vergleiche auch die wiederkehrende Diskussion um Söhne, die aus vorauseilendem Schutz-Wunsch keine Röcke in die Kita anziehen dürfen)

Was macht Insta mit meinen Kindern (rhetorische Frage, Einladung zum bisschen Mitweinen ob der Hilflosigkeit)

Wie sehen die Zahlen in Hinblick auf die #RosaHellblauFalle® aus:  bekommen mehr Mädchen als Jungen eine Zahnspange empfohlen? Meine Vermutung, dass das so ist, wird wohl stimmen, denn wenn man das Merkmal ’schöne Zähne‘ mit anderen Optimierungsbereichen vergleicht, finden sich viele Studien, die nachweisen, dass Mädchen schon früh (Grundschulalter) und häufiger als Jungen mit ihrem Körper unzufrieden sind und viele bereit wären, Änderungen durch eine Operation vorzunehmen. Nicht zuletzt die Studie, die ausgewertet hat, wonach Eltern sich via Google informieren: Während Eltern von Söhnen vor allem interessiert, wie schlau ihr Kind ist, wollen Eltern von Mädchen häufiger wissen, ob ihr Kind hässlich oder übergewichtig ist.

„Sie konzentrieren sich wesentlich stärker auf die Klugheit ihrer Söhne und die Taillen ihrer Töchter“

Seth Stephens-Davidowitz

Für uns ist das Thema jetzt abgeschlossen, für den Moment, und ich bin fast erleichtert, das sich die Schönheits-Diskussionen wieder nur um Kleidung und Frisur drehen und keine größeren, nicht revidierbaren Eingriffe erfordern. Mal schauen, wie lange das anhält. Und allen, denen die Zahnspangen-Entscheidung noch bevorsteht, wünsche ich wirktlich gutes Durchhalten beim immer wieder Nachfragen bei den kommenden Terminen, was sein muss und was ohne auch völlig in Ordnung wäre.

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Zum Weiterlesen:

– Offener Brief von Henning Madsen, Kieferorthopäde, Berufsverband der deutschen Kieferorthopäden: https://www.madsen.de/wp-content/uploads/2015/11/Leitfaden.pdf

– Laut Bundesrechnungshof gibt es kaum Belege für den gesundheitlichen Nutzen und die medizinische Notwendigkeit kieferorthopädischer Behandlungen. Zahlen dazu, ob Kinder, die eine Zahnspange getragen haben, später wirklich gesündere Zähne haben, gibt es kaum. Das gilt v.a. für die Behandlung leichter Fehlstellungen. Nachgewiesen sei lediglich ein erhöhtes emotionales Wohlbefinden – und selbst hier ist der Effekt der Zahnklammer nicht wirklich stark. – American Journal of Orthodontics and Dentofacial Orthopedics: Javidi et al., 2017.

– *HKK-Studie 2012: ‚Kieferorthopädische Behandlung von Kindern und Jugendlichen‘: https://projekte.meine-verbraucherzentrale.de/media250111A.pdf