Jungs sind nun mal wilder, weil… Testosteron

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Eh… Nein!

Die Testosteron-Keule

(Aus: Schnerring/Verlan. Die Rosa-Hellblau-Falle. München, 2014. Seite 40 – 43)

»Ist doch klar, dass es da Unterschiede gibt«, erklärte mir neulich ein Vater. »Schau, das zeigt sich doch allein schon am Testosteron.« Ich nicke und bedanke mich, dass Mika zum Essen bleiben durfte. Beim Schuheanziehen zwischen Tür und Angel kommt kein Argument an gegen das schlagkräftige Testosteron. Es kann bei Frauen und Männern gemessen werden, doch weil es ein Sexualhormon ist und bei Männern in höherer Konzentration vorkommt, weil es die Entwicklung der männlichen Geschlechtsorgane bewirkt, gilt es in den verschiedenen Alltagstheorien als »das männliche Hormon«. Mit Stichwörtern wie Aggressivität, Muskeln, räumlichem Denken und der Vorliebe für Fleisch werden dann meist in der nachfolgenden Erklärung die Unterschiede dargelegt, die sich angeblich bereits im Mutterleib nachweisen lassen. Doch beim Menschen wurden die meisten Versuche mit älteren Kindern oder Erwachsenen gemacht, sodass genauso die Erfahrung und das Gelernte Grund sein könnte für unterschiedliche Ergebnisse im räumlichen Denken. Immerhin zeigten Experimente mit Ratten, dass ein erhöhter Testosteronwert die Tiere aggressiver macht und ihnen außerdem ermöglicht, sich schneller in einem Labyrinth zurechtzufinden. Doch Testosteronwerte werden bei Menschen meistens im Blut oder im Speichel gemessen, dabei wäre der Gehalt im Gehirn wichtig, um relevante Aussagen treffen zu können. Und wenn das Verhalten von Probanden mit ihrem Testosteronspiegel verglichen wird, ist damit die Frage nach Ursache und Wirkung immer noch nicht beantwortet:

Das Testosteron beeinflusst nicht nur das Verhalten, sondern das Verhalten umgekehrt auch den Hormonspiegel.

Trotzdem erklären Zeitungsartikel mit dem »höheren fötalen Testosteronwert« die besseren mathematischen Fähigkeiten von Achtklässlern, Pausenrangeleien gegenüber Puppenspiel sowie die Vorliebe für Fleisch statt Salat. Populärwissenschaftliche Bücher übers Einparken und Zuhören, über Gefühle und Wettkampf verstärken diesen ›publication bias‹* weiter. Der ›Publikationsbias‹ ist die statistisch verzerrte Darstellung der Datenlage, die daher rührt, dass Studien mit signifikantem Ergebnis (»Es besteht ein angeborener Unterschied zwischen den Geschlechtern.«) eher in wissenschaftliche Publikationen aufgenommen und stärker finanziell gefördert werden. Über sie wird dann auch öfter und ausführlicher berichtet als über Studien mit nichtsignifikanten Ergeb- nissen (»Es besteht kein angeborener Unterschied zwischen den Geschlechtern«). Die US-amerikanische Soziologin Carol Hagemann- White konnte schon 1984 nachweisen, dass vor allem die deutsch- sprachige Literatur dazu neigt, Geschlechtsunterschiede als massiv und angeboren zu beschreiben. Bei näherer Analyse der Untersuchungen würden sich die aufgestellten Behauptungen meist als unhaltbar herausstellen. Doch um an Fördergelder zu kommen, müssen Untersuchungen so angelegt sein, dass sie nach einem Unterschied suchen. Ob der dann groß ist oder eher verschwindend gering, spielt am Ende keine entscheidende Rolle.

»Somit ist schon vom Forschungsdesign her gar kein anderes Ergebnis möglich, als Differenzen zwischen Frauen und Männern festzustellen.

Dabei zeigen sich überall, also beispielsweise bei Hormon- und bei Gehirnuntersuchungen, meist viel größere Unterschiede innerhalb einer Gruppe, also etwa innerhalb der Gruppe ›Männer‹«, so der Biologe Heinz-Jürgen Voß.

In ihrem Buch »Die Geschlechterlüge. Die Macht der Vorurteile über Mann und Frau« hat die Neuropsychologin Cordelia Fine zahlreiche Studien aus den unterschiedlichsten Bereichen versammelt, die sich damit befassen, ob und worin Frau und Mann, Mädchen und Junge sich unterscheiden. Sie beweist anschaulich und im Detail, dass es zu jeder Untersuchung, die einen natürlichen, also angeborenen Unterschied ergab, auch eine aktuellere Studie gibt, die das Gegenteil herausgefunden hat. An zahlreichen Beispielen führt sie vor, dass Untersuchungen, die vermeintlich große Unterschiede zwischen den Geschlechtern beobachten konnten, in aller Regel schon in Fragestellung und Versuchsaufbau entscheidende Details unberücksichtigt ließen oder den Einfluss der Sozialisation zu wenig bedachten und so zu fehlerhaften Ergebnissen führten. Darunter Studien, denen zufolge das Testosteron schon im Mutterleib auf die Gehirnentwicklung des Fötus Einfluss habe und so ein ›weibliches‹ und ein ›männliches‹ Gehirn entstehen lasse.

Framing durch Begriffe wie „Testosteronschwemme“

Das vielfach gezeichnete Bild einer »vorgeburtlichen Testosteronschwemme« oder einer »Testosterondusche« wirkt derart eindrücklich, dass wir automatisch glauben, sie müsse Konsequenzen haben. Doch tatsächlich lässt sich die effektive Konzentration eines Geschlechtshormons im menschlichen Körper bisher gar nicht exakt messen, schreibt die Neurobiologin Lesley Rogers von der University of New England in »Sexing the Brain«. Der im Speichel gemessene Testosteronwert sagt zum Beispiel nicht automatisch etwas über das Testosteron aus, das auf das Gehirn wirkt. Darüber hinaus konnte der Bochumer Biopsychologe Markus Hausmann nachweisen, dass sich der Hormonspiegel während und durch eine Untersuchung verändern kann. Er ließ zwei gemischte Gruppen von Männern und Frauen mentale Rotationsaufgaben lösen, sie sollten also mehrdimensionale Objekte im Geist drehen. Durch suggestive Einstiegsfragen (»Ist jemand, der gut räumlich denken kann, eher ein Mann oder eine Frau?«) wurde die eine Gruppe auf die gängigen Geschlechterstereotype aufmerksam gemacht. In der anderen Gruppe wurden dieselben Fragen nicht mit Mann/Frau, sondern mit Nordamerikaner/Europäer gestellt (»Ist jemand, der gut räumlich denken kann, eher ein Amerikaner oder ein Europäer?«). In der ersten Gruppe mit Stereotypbedrohung waren die Männer bei den Rotationsaufgaben deutlich besser. In der Vergleichsgruppe dagegen gab es keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Als Hausmann im Anschluss an den Test die Hormonspiegel seiner Probanden überprüfte, konnte er bei den Männern in der Stereotypgruppe deutlich erhöhte Testosteronspiegel nachweisen. Ihre Gedanken könnten, so Hausmanns Schlussfolgerung, in Verbindung mit der Wettbewerbssituation dazu geführt haben, dass mehr Testosteron ausgeschüttet wurde. Erst der Hinweis also, dass es bei diesem Test um eine Aufgabe geht, von der behauptet wird, dass Männer hier bessere Leistungen erbringen, sorgte für den entsprechenden Hormonschub.

Einflüsse lassen sich nicht getrennt untersuchen

Dass bestimmte soziale Situationen auf unseren Hormonspiegel Einfluss haben, ist bekannt. Väter haben niedrigere Testosteronwerte als Kinderlose, Sportlerinnen zeigen an Wettkampftagen erhöhte Testosteronwerte, und nun hat Markus Hausmann diese allgemeinen Befunde in einem Szenario nachgewiesen, in dem auch der Einfluss geschlechtstypischer Vorurteile berücksichtigt wurde. Studien zu angeblichen Geschlechterunterschieden, in denen der Hormonstatus vor und nach den Tests nicht verglichen wurde, sind nach diesen Ergebnissen mit Vorsicht zu bewerten, also eigentlich fast alle, da diese Herangehensweise noch sehr neu ist. Und die Frage nach Kultur oder Natur, Erziehung oder Erbe führt zu keiner befriedigenden Antwort, denn die Ergebnisse zeigen noch einmal, dass sich biologische, soziale und psychische Einflüsse nicht trennen lassen.


In dem Zusammenhang vllt auch interessant, der Beitrag über >Boys will be boys  / So sind sie eben.<

„The argument that >boys will be boys< actually carries the profoundly anti-male implication that we should expect bad behavior from boys and men. The assumption is that they are somehow not capable of acting approprately, or treating girls and women with respect“