Junge? Ist ein rotes Wort

Gastbeitrag von Jana Pikora

Jana Pikora ist Synästhetikerin, sie hört Farben. Stimmen, Musik und Geräusche sind in ihrer Wahrnehmung also mit ganz bestimmten Farben verbunden. Bei ihr wandern aber auch Zahlen in menschlichem Antlitz durch einen eigenen Raum und in Wörtern sieht sie Figuren mit menschlichen Eigenschaften. Jana Pikora vereint in sich viele verschiedene Synästhesietypen, was sie als Probandin für die Hirnforschung ungeeignet macht. Als @piksyn bei Twitter und auf Ihrem Blog www.piksyn.wordpress.com schreibt sie über ihre Wahrnehmung. Hier findet sie Wörter für ihre Farben, Frisuren, Muster und Texturen und freut sich jedes Mal, wenn sie einen sprachlichen Ausdruck oder ein Foto findet, das ihrem inneren Bild annähernd entspricht.

Foto: (c) Jana Pikora

Foto: (c) Jana Pikora

Als Kind war mir nicht bewusst, dass es nicht ’normal‘ sein könnte, dass ich Farben sehe, vor allem weil es einigen Kindern in der Verwandtschaft ebenso ging wie mir. Mit denen stritt ich mich ein paar Mal bitterlich, denn dass mein Name nicht grün sondern orange sein sollte, das war so unvorstellbar für mich, wie die Tatsache, dass es Menschen gibt, die Porrée mögen. Inzwischen esse ich Porrée und weiß obendrein, dass wir alle die Welt unterschiedlich wahrnehmen. Und dass mein Name in verschiedenen Farben existiert, wirkt auf mich nicht mehr bedrohlich, sondern bereichernd und beruhigend gleichermaßen. Denn was wäre das für eine langweilige Welt, wenn mein Name allerorten grün wäre?

Es ist ein Ringen um Wörter für all diese Farben, denn Synästhesie gleicht einem Traum, den man während des Erlebens klar sieht und dessen Fetzen man mühsam am Morgen einsammelt. Aber wie man lernen kann, sich besser an Träume zu erinnern, so habe ich gelernt, meine Synästhesien länger zu bewahren, die Wörter bleiben nun länger vor mir stehen und lassen sich anschauen und beschreiben. Es gibt Farben, die im Außen nicht zu finden sind, für die es keine Namen gibt. In unserer Wahrnehmung existieren weit mehr Schattierungen und Abstufungen als wir mit Sprache zu fassen vermögen.

Und dann diese Sehnsucht nach Rosa. Die ersten Jahre meiner Kindheit verbrachte ich rosalos in einer Wohnung mit vielen Farbtönen: Beige, Creme, Braun, Rot, Grün, Olivfarben, Geigenfarben, Orange, Blau, Mutterfarben, Gelb, Vaterfarben, Vanille und diversen Musikfarben. Grau, Graublau natürlich auch. Gedämpfte 70er-Jahre-Töne. Diese Farben sind in meine Synästhesien übergegangen. In den 1980ern trat dann Türkis in mein Leben und: Rosa. Rosa war eine wertvolle Währung. Ich wollte unbedingt mal einen rosa Pullover tragen, außerdem spielte ich gerne Barbie, wenn ich nicht gerade irgendeinen Ball irgendwohin trat oder mich auf Bäumen aufhielt. Für mich hatte Rosa jedoch nichts mit ‚Mädchen‘ zu tun. Ein Mädchen war ich auch so, das wusste ich, denn ich hatte schließlich weibliche Geschlechtsorgane. Ich konnte nicht im Stehen pinkeln, das nervte mich. Und dass ich eines Tages dafür zuständig sein sollte, schwanger zu werden, fand ich hochinteressant und gleichermaßen belastend. Das war auch schon alles.

Für mich war Rosa das sensiblere Rot. Es war genauso wichtig wie Türkis, das variierte Blau oder Grün. Meine Lieblingsfarbe blieb bei aller Sehnsucht nach Frische und Neuem jedoch immer Blau, ich bin sehr treu. Rosa war schlichtweg eine weitere Variante. Bis heute haben nur ganz wenige Wörter einen Rosaschimmer, denn die meisten Wörter habe ich in der Vorrosazeit kennenglernt. Eine Spülmaschine hingegen gab es erst im Rosazeitalter und sie klingt geborgenheitsfarben (blaugrau mit einem rosa Strom). Liebe blieb gelb, rosa Herzen irritierten mich maßlos und nur mühsam gewöhnte ich mich daran, dass diese Dinge zusammenhängen sollten. Ich nahm es schließlich so hin, wie alles, was nicht meiner synästhetischen Logik folgte. Im Übrigen beinhaltet das Wort ‚Glück‘ einen kleinen Rosaschimmer, doch auch das ist nur Zufall. Wie alles in der Synästhesie: Sie folgt Zufällen, der Freiheit, dem Moment. In dem Augenblick, in dem ein Wort zum ersten Mal auftritt, teilt ihm das Gehirn irgendeine Farbe, eine Frisur und ein Gesicht zu. Manchmal auch nur ein Muster. Mein Gehirn war da sehr freigiebig und folgte stringent eigenen Gesetzen. Das Wort ‚Mädchen‘ ist und bleibt für immer weißlich, gelb und mit einem Hauch Grau. Und ‚Junge‘? Ist ein rotes Wort. Mit einem weißen Streifen.

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„Synästhesie im weiteren Sinne – verstanden als verstärkte innere Wachheit oder als Fähigkeit, die eigenen Gefühlszustände etwa bildhaft wahrzunehmen -, kann man sich aneignen. Synästhesie macht sensibler und innerlich sicherer, weil sie eine neue, bewusstseinserweiternde Dimension der Verankerung im eigenen Selbst und der Welt eröffnet.“  Hinderk Emrich (Psychiater und Philosoph)