Der Gastbeitrag ist dieses Mal von Anke Domscheit-Berg. Sie ist Publizistin, Unternehmerin und Netzaktivistin mit den Schwerpunkten digitale Gesellschaft, Open Government und Geschlechtergerechtigkeit. 2015 erschien ihr zweites Buch: “Ein bisschen gleich ist nicht genug! Warum wir von Geschlechtergerechtigkeit noch weit entfernt sind”
Überall kriegt ein kleines Kind heute verklickert, was zu seinem Geschlecht gehört und was nicht. Und Kinder wollen Erwartungen erfüllen. Das heißt, sie wünschen sich tendenziell eher Dinge, von denen sie glauben, die passen zu ihnen und führen zu Akzeptanz in der Gruppe und nicht zu Ablehnung. Und Eltern wollen auch nicht nach Hause kommen mit einem Geschenk, bei dem das Kind eine lange Nase zieht und sagt: „Ich wollte was ganz Anderes haben.“ Das heißt, man erfüllt als Eltern Erwartungen, die Kinder haben, die sie aber von ihrer sozialen Umwelt quasi eingetrichtert bekamen. Und selbst, wenn man diese Effekte als Elternteile, Patentanten und -onkel oder Großeltern ignorieren will – wer in den Laden geht und versucht, heute etwas Anderes zu kaufen, der oder die hat es extrem schwer. Ich kann kaum Mädchenkleidung finden, die neutral ist, die kein schickimicki Gedöns drauf hat und nicht nach Prinzessin aussehen will. In der Spielzeugabteilung das Gleiche. Es ist nicht völlig ausgeschlossen, aber es ist mit einem bestimmt fünf- bis zehnfachen Aufwand verbunden, alternative Dinge zu kaufen. Und diese beiden Effekte wirken wie eine Klammer: die eine Hälfte erzeugt die Nachfrage, die andere ist das extrem einseitige Angebot. Das ist ein sehr fataler Teufelskreislauf, der sich selbst verschärft.
Außer Rosa noch nichts gesehen
Als ich für meinen Sohn vor 14 Jahren einen Kinderwagen und Wickelutensilien gekauft habe, gab’s das vor allem in sehr praktischen Farben. Gerade Kinderwagen waren in der Regel irgendwie dunkelbunt, weil sie ja schnell dreckig werden. Es gab weder rosa Wickelsets noch rosa Kinderwagen. Wenn man heute in die gleiche Ladenabteilung geht, da findet sich das alles komplett gegendert: vom Windelset übers Fütterset bis zu diesen Bammelspielchen, die zum Spielen am Kinderwagen hängen. Und dann wird einem bei einem dreijährigen Mädchen erzählt, dass es Rosa halt schon immer gemocht hat, dabei hat es außer Rosa in seiner unmittelbaren Umgebung ja schon als Baby fast nichts Anderes gesehen! Vielleicht ein bisschen himmelblau am Himmel und ein bisschen grün an den Bäumen, aber alles was mit ihm selbst assoziiert wurde, war meistens irgendwie rosa. Und das hat für mich dann mit Freiheit oder Präferenzen gar nichts mehr zu tun, weil ein so geprägtes Kind gar nicht heraus finden kann, welche Farben ihm oder ihr gefallen.
Ethischer Algorithmus
Warum müssen Holzeisenbahnen mit Jungs assoziiert werden? Warum sollte ein kleines Mädchen damit nicht spielen? Es gibt keinen Grund dafür. Ich kann mir Gründe vorstellen, warum man Tampons unter „Frau“ einsortiert, aber zu Bauklötzchen und Holzeisenbahn fällt mir da kein Grund ein. Das ist doch eine unzulässige Einschränkung für Kinder! Da werden zum Beispiel in Online-Shops Filter eingebaut, wo gar keine hingehören. Da fängt für mich die Diskussion um die Ethik von Algorithmen an, denn diese Filter sind stark zu hinterfragen: an welchen Stellen machen sie Sinn beziehungsweise, wo schränken sie Entwicklungsmöglichkeiten für Kinder ein? Diese stereotypen Zuschreibungen zeigen sich ja nicht nur im Spielzeugangebot, sondern in allem, was Kinder oder Heranwachsende umgibt, Erwachsene natürlich auch. Ob das Videospielzeuge sind oder Hollywood-Filme, Schulbücher oder Werbungen in Zeitschiften. Das ist eine massive Prägung, von der ich glaube, dass sie schlicht eine Folge des Kapitalismus ist, einer Marktgesellschaft, die einfach um jeden Preis versucht, immer noch mehr zu verkaufen, denn wir sind ja eine Gesellschaft, die davon ausgeht, dass Wirtschaft immer irgendwie wachsen muss – was schon aus vielen anderen Gründen ein bescheuertes Konzept ist.
Corporate Social Responsibility
Dabei können wir es uns gar nicht leisten, dass die Einen sich kaum mit Mathe befassen, weil ihnen eingeredet wird, sie seien dafür zu doof. Oder dass andere sich mit bestimmten sozialen Fragen weniger befassen, weil sie denken, „Pflegearbeit ist uncool“. Das ist nicht nachhaltig als Gesellschaft und es beschränkt individuelle Entfaltungsmöglichkeiten. Man redet ja oft von diesem hohen Begriff „Corporate Social Responsibility“, also der Verantwortung, die Unternehmen in der Gesellschaft haben. Meistens meint man damit, man ist ein bisschen umweltfreundlicher, sponsert einen lokalen Sportverein oder kauft vielleicht ein Kunstwerk von einem prekären Künstler an. Eigentlich müsste diese Verantwortung aber viel weiter gehen, denn Unternehmen prägen, sie gestalten die Gesellschaft mit. Deshalb sollte zur „Corporate Social Responsibility“ auch die Frage gehören: mache ich mit dem, was ich als Unternehmen produziere und wie ich darüber kommuniziere, die Gesellschaft besser oder mache ich sie schlechter? Und die meisten Unternehmen entscheiden sich aktiv dafür, sie schlechter zu machen, nur weil ihnen das mehr Profit bringt. Denn dieses Thema ist keines, bei dem man sagen kann: „Ich bleibe neutral“, das gibt es nicht, für eine Seite muss man sich entscheiden.
6 Fragen an Anke Domscheit-Berg:
Für unser Radiofeature im Deutschlandfunk ‚Die Rosa-Hellblau-Falle. Eine Lange Nacht der Geschlechterrollen‚ haben wir allen Teilnehmenden im Anschluss an die Interviews dieselben sechs Fragen gestellt und Ausschnitte davon ins Feature eingebaut. Die Antworten von Anke Domscheit-Berg auf die sechs Fragen hier in voller Länge:
Was wäre anders in deinem Leben, in deinem Alltag, wenn du ein Mann wärst:
Also für mich wären extrem viele Dinge anders. Ich bin ja DDR-sozialisiert und groß geworden mit einer Vorstellung, dass zum Beispiel arbeiten und Kinder haben keinerlei Widerspruch ist. Als ich dann aber bei einem westdeutschen Unternehmen arbeitete und ein Kind hatte, dann war das auf ein Mal ein Problem. Meine Umwelt erwartete von mir, dass ich zu Hause bleibe, jedenfalls nicht mehr Unternehmensberaterin auf Projekten bin. Und der Vater meines Kindes hat bei der gleichen Firma, im gleichen Job gearbeitet, für den hat sich in dem Punkt nichts verändert. Und das war für mich deshalb so eine extrem überraschende Erkenntnis, weil das mit meiner DDR-Erfahrung überhaupt nicht zusammen ging, und ich kannte weder Begriffe wie „gläserne Decke“ noch wie „Rabenmutter“, die hatte ich weder gehört, noch habe ich das Konzept verstanden. Und das, glaube ich, hätte ich als Mann ja einfach gar nicht mitgekriegt, sondern dann hätte ich genau mein Leben so weiter gelebt wie der Vater meines Kindes, der Montag bis Freitag auf Dienstreise war, und am Wochenende war er halt dann mal da. Nie hat ihn einer gefragt: „Wer kümmert sich denn um Dein Kind“ oder „Wie machst Du das denn mit der Familie?“. Und vielleicht hätte ich das als Mann ja auch so gemacht und genau wie er schneller Karriere gemacht, mehr Geld verdient, mehr Rentenbeiträge eingezahlt und würde jetzt viel mehr Geld haben, selbst als Oma noch. Vielleicht (das hoffe ich natürlich) hätte ich mir die Arbeit auch mit der Mutter des Kindes geteilt – aber selbst dann wäre es nur noch die halbe Belastung gewesen im Vergleich zu dem, wie ich es als Frau erlebt habe.
Was tust du nur deshalb, weil du eine Frau bist?
Ich war ja 15 Jahre in der Industrie und auch in Führungspositionen, und das ist tatsächlich so, dass man als Frau eine extrem schwierige Gradwanderung zu bewältigen hat. Denn einerseits erwartet man von einer Führungsperson bestimmte Verhaltungsweisen, die in der Regel identisch sind, mit dem, was man von einem typischen männlichen Mann erwartet, die man aber nicht mit Weiblichkeit verbindet. Das heißt, ich verletze als Frau immer ein Stereotyp, entweder das, das man mit Managern assoziiert oder das, was man mit Weiblichkeit assoziiert. Ich kann mir jetzt aussuchen welches. Also entweder bin ich Weichei-Managerin und dann eigentlich nicht führungsstark oder aber bin ich halt so eine eiserne Lady und dann aber total unweiblich. Es gibt grenzenlos wissenschaftliche Forschung dazu, die aufzeigt, dass man, wenn man sich führungsstark verhält als Frau, einfach nicht gemocht wird. Man wird abgelehnt, von Kollegen, von Vorgesetzen, und persönliche, menschliche Ablehnung führt auch zu einer Einschränkung bei weiteren Karriereentwicklungen. Viele Frauen können diese Geschichten erzählen, dass sie entweder den „Mäuschen“-Vorwurf kriegen oder den „aggressiv und karrieregeil“-Vorwurf kriegen – dazwischen gibt’s fast nichts. Diese Art der Gratwanderung war mir oft durchaus bewusst, wenn ich genau überlegte, wie ich auftrete und welche Formulierungen ich benutze, um eine gewisse Balance zu erreichen, weder zu unweiblich noch zu dominant rüberzukommen. Das ist ein beschissenes Spiel, aber als Frau hat man oft keine andere Wahl. Ich habe Männer oft darum beneidet, diese Art von Rücksicht nicht üben zu müssen, da es bei ihnen keinen Widerspruch zwischen stereotyper Männlichkeit und Managementkompetenz gibt.
Was tust du nicht / welche Dinge lässt du lieber, weil du eine Frau bist:
Mir fallen ganz viele Dinge ein, aber es sind eigentlich eher traurige Dinge, weil es Freiheit einschränkende Dinge sind. Also ich würde nicht nachts durch irgendwelche Parks gehen, ich würde beliebige Umwege in Kauf nehmen oder Taxi-Geld verschwenden, auch wenn ich eigentlich prima hätte laufen können, ich würd’s einfach nicht tun aus Angst. Ich gehe durch bestimmte Unterführungen nicht. Ich gehe niemals mit lauten Kopfhörern mit Musik irgendwo im Dunkeln lang, weil ich dann nicht höre, wenn mir einer hinterher kommt. Ich habe dann immer die Lauscher ganz weit offen, um das mitzukriegen. Ich würde nicht (mehr) trampen. So gibt’s ganz, ganz viele Dinge. Ja, ich weiß, nicht alle Männer machen schlimme Sachen, ich weiß aber auch, dass zu viele Männer für zu viele Frauen gefährlich sind und dass ich versuchen muss, für mich das Risiko zu minimieren, auch wenn ich weiß, dass es nicht meine Schuld ist. Man sieht auch keinem Mann an, wie gefährlich er werden kann. Und ich habe selber schlechte Erfahrungen gesammelt diverser Art, das ist also eine ganz reale Gefahr, die ist nicht bloß Theorie, das wird durch gruselige Statistiken ja auch jedes Jahr neu bestätigt.
Durch welches Klischee fühlst du dich persönlich beeinträchtigt?
Ich habe mehrere sehr unschöne Erfahrungen auch mit direkter Diskriminierung in unterschiedlichen Arbeitsplätzen gehabt, unter anderem auch als IT-Projektleiterin, wo mir immer wieder suggeriert wurde, teilweise auch von Kunden, IT-Leitern, die mich noch nicht kannten, die dann so Panik äußerten, wenn ich angekündigt wurde als neue Projektleiterin, und meinten: „Kann die das überhaupt? Das ist doch eine Frau.“ und „Da sind doch nur Jungs oder Männer im Team, und da geht’s um X-Millionen Euro IT-Einkauf im Jahr, da darf doch nichts schief gehen.“ Und nach ein paar Wochen mich testen, wo ich dann so fachliche Sachen gefragt wurde, wie in kleinen Prüfungen, hießt es dann halt irgendwann: „Joa, die kann das ja doch und alles wieder gut. Wir sind ja jetzt entspannt.“ Aber ich habe das die ganze Zeit gespürt! Auf jedem neuen Projekt kam immer dieses subtile: „die kann das eigentlich nicht; die gehört hier eigentlich nicht hin“. Und das hat mich in meiner Arbeit behindert, weil es mir Stress verursacht hat, es hat mich unter Druck gesetzt, mir Angst gemacht hat und hat sicher auch dazu beigetragen, dass ich nach 15 Jahren IT-Industrie neben anderen Gründen gesagt habe: ich will mir das einfach nicht mehr antun.
Krass fand ich auch, als mein Kind 6 Monate alt war und ich wieder arbeiten wollte. Und da hörte ich wirklich dieses: „Was?! Du willst schon wieder arbeiten?! DAS ARME KIND! Wozu braucht eine Mutter denn Karriere, wenn sie ein Kind hat?“ Ich kriegte so etwas von Vorgesetzen ins Gesicht gesagt, aber auch Arbeitskollegen waren da recht unverblümt.
Erzähle von einer Situation, in der du bemerkt hast, dass es von Vorteil ist, zur Gruppe der Frauen zu gehören:
Als ich mal ein halbes Jahr vorher Urlaub beantragt habe für den Geburtstag meines Sohnes, weil mir das wichtig war, sagte mir mein Chef: „Naja, so als Muttertier sei das ja ok, aber für ihn komme das nicht in Frage, er hätte 3 Kinder, da müsse er ja drei Mal im Jahr Urlaub nehmen, wo käme man denn da hin, ne?“ Wo ich noch dachte, okay, jetzt ist das Klischee zwar zu meinem Vorteil, aber was für eine arme Gesellschaft…
Gibt es Situationen, in denen das Geschlecht keine Rolle spielt?
Hm, diese Frage ist verdammt schwer. Ich wollte erst „Sport“ antworten, aber das stimmt ja nicht. Wer einmal 20 Sekunden über Männer- und Frauenfußball nachdenkt oder wie Frauen und Männer in Fitnesscentern unterschiedlich angeschaut werden, merkt schnell, dass auch da das Geschlecht eine Rolle spielt. Beim Filme schauen? Da fällt mir dann Game of Thrones ein, eine Serie, in der viele Vergewaltigungsszenen vorkommen, die vermutlich auch von Frauen anders rezipiert werden als von Männern. Vielleicht Spaghetti kochen… außer man stellt sich ein größeres Spaghetti-Kochen im Freundeskreis vor, wo nach dem Essen auf magische Weise eine Geschlechterteilung entsteht, bei der mehrheitlich oder ausschließlich Frauen den Tisch abräumen und Ordnung wieder herstellen… Für spezifische Situationen wäre das einfacher, bei uns zuhause hat das Geschlecht zum Beispiel auf Hausarbeit keine Auswirkungen, es hängt bei uns nur von zufälligen Anwesenheiten und Zeitverfügbarkeiten ab, wer die Spüle ausräumt, Müll wegbringt oder Essen kocht und das hält sich ungefähr die Waage. Mir fällt aber tatsächlich keine generische Situation ein, in der Geschlecht prinzipiell keine Rolle spielt. Leider, denn ich wünschte mir, diese Kategorie würde nicht in allen Bereichen so wichtig genommen.
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Anm. von Sascha und Almut:
Bei der Fortpflanzung ist das Geschlecht irgendwie egal, denn da brauch es Mann und Frau. Zumindest noch. ;-)