Aufgaben in Schulbüchern, durch die Geschlechterklischees reproduziert werden, machen auf Twitter grade wieder die Runde; die beiden Tweets, s.u., sind der Anlass für diesen Blogartikel, denn wir sind immer mal wieder mit unserem Workshop-Angebot in (Schul-)Buchverlagen, und ich möchte erzählen, welche Erfahrungen wir u.a. bei Cornelsen gemacht haben:
Die Aufgabe mit Sprechblasen ist aus einem Cornlesen-Schulbuch für die erste Klasse. Wir haben diese Schulbuchseite in einem Workshop mit Redakteur*innen des Verlags diskutiert, und es war positiv zu erleben, wie viel in so kurzer Zeit angestoßen werden kann. Es genügt ein bisschen Hintergrundwissen zur RosaHellblauFalle, um große Zweifel an mancher Übung aufkommen zu lassen. Aber das Gespräch deckt darüberhinaus noch viel grundlegendere Probleme auf:
Man muss nämlich wissen, dass ALLE Schulbücher für die 1. und 3.Klasse ähnliche Übungen beinhalten, weil die Themen ‚Wer bin ich‘ / Familie / Rollenbilder / Mein Körper aus dem Lehrplan aufgegriffen werden. Die Frage ist, wie. Und da hat Cornelsen noch eine der besseren Umsetzungen gewählt. Auf derselben Seite im Cornelsen-Buch werden nämlich oberhalb von den Kindern individuelle Interessen abgefragt, also ohne Bezug zum Geschlecht. Das mag harmlos klingen, ist aber entscheidend, wenn man von der Wirkung des #StereotypeThreat weiß: Sobald ein (geschlechtsbezogenes) Vorurteil im Raum steht, beeinflusst es das Verhalten, Menschen treffen danach stereotypere Entscheidungen. Haben Kinder also die Chance, erst zu überlegen: „Wie heiße ich und was mache ich gerne?“, BEVOR sie überlegen sollen „Was mögen angeblich alle Mädchen/Jungen“ (was zudem ja in der Aufgabe nicht als Vorurteil gekennzeichnet ist) sind sie danach stärker darin, enge Rollenbilder infrage zu stellen, und auszuhalten, wenn sie selbst dem Bild nicht entsprechen.
Andere Bücher versäumen das und steigen direkt ein mit Aufgaben, in denen klischeehaft zugeordnet werden soll. Man muss schon froh sein, wenn bei der Frage „für Jungen oder für Mädchen“ zusätzlich „beide“ zur Wahl steht:
Edit:
Im Beispiel des o.g. Tweets mit den Sprechblasen kommentieren Erwachsene, die Antwort sei „easy“, Kinder sollten eben „beide“ angeben. Diese Option ist in anderen Schulbüchern gar nicht gegeben. Und eine Aufgabenstellung infrage zu stellen ist nicht „einfach“, nicht für Grundschulkinder. Zumal die Erwartungshaltung, ein „richtiges“ Mädchen, ein „echter“ Junge zu sein, wie zwei Elefanten im Raum steht und Normierung fördert.
Alle Verlage schreiben zwar dazu, dass die jeweilige Übung dazu dient, über Geschlechterrollen (das Ich, oder wahlweise den Körper) zu informieren und sie zu diskutieren, aber dass es hier um einengende Klischees geht, wird nicht immer klar, weil das oft nur den Lehrkräften nicht aber den Kindern erklärt wird. Und von beiden kann man nicht erwarten, dass sie im Alltagstrubel immer auch das Kleingedruckte lesen:
Außerdem bleibt es ganz grundsätzlich eine umstrittene Methode, Klischees abzufragen mit dem Ziel, sie zu widerlegen. Was mir mit Erwachsenen sinnvoll erscheint, weil sie abstrakter denken können, ist mit Kindern riskant, denn es ist wahrscheinlich, dass Schüler*innen dadurch manche geschlechtsbezogene Zuordnung erst lernen, die sie zuvor nicht gemacht haben. Das bedeutet, dass bei manchem Kind selbst bei guter Umsetzung mit solchen Übungen Rollenklischees zementiert werden, anstatt dass sie abgebaut würden. Und ob die Mehrheit der Klasse überhaupt Positives davon mitnimmt, hängt bei diesem Thema stärker als bei manch anderen von der Fachkraft ab. Ihr Vorwissen über die #RosaHellblauFalle ist entscheidend, denn die Wahrscheinlichkeit, dass sie noch nie darüber reflektiert hat, wie sehr sie selbst drinsteckt, ist hoch. (Vgl. dazu: „Also ich behandle Jungen und Mädchen gleich!“).
Was fehlt:
routinemäßiger RosaHellblauFalle-Check für alle (neuen) Schulbücher
Man mag also den Schulbuch-Verlagen vorwerfen, dass sie das HowTo zu dieser Übung zu sehr ins Kleingedruckte drängen, oft nur im Begleitheft für Lehrkräfte die Nebenwirkungen erwähnen. Und wir würden uns deshalb wünschen, dass alle (Schul-)Buchverlage freiwillig und grundsätzlich einen #RosaHellblauFalle-Check ins Lektorat mit einbauen. (Wir haben einen entwickelt, er ist Teil unserer Workshops in Kinderbuchverlagen) Solche Tests sollten mindestens für Schul- und Kinderbücher Routine werden, noch bevor ein neuer Titel oder eine Neuauflage in Druck geht.
Dann hätte sich wohl auch das Team des Westermann-Verlag entschieden, dass ein Mario Barth-Text in einem Schulbuch für die 10.Klasse, (also für ca. 16-Jährige) nicht gut aufgehoben ist. Oder kurz vor Drucklegung hätte noch jemand erkannt, dass die jetzigen Übungsanweisungen an keiner Stelle das Weiterverbreiten von diskriminierenden und sexistischen Rollenbildern aufgreifen oder dem vorbeugen. Wo ist das Problem, „Ist doch nur Spaß!“. Außerdem: Mario Barth macht’s doch auch und wird sogar durch ein Schulbuch geadelt! 🤦♀️
Jetzt ist aber ja kein Geheimnis, dass die Aufgaben im Schulbuch nur einen kleinen Teil des Unterrichts ausmachen. Klischees werden vor allem auch im Gespräch zementiert, in Arbeitsanweisungen oder in Diskussionen, in denen es vordergründig um andere Themen geht. (Vgl. die Beispiele unter #RosaHellblauSchule) Außerdem suchen sich Lehrkräfte ihr Material aus allen möglichen Quellen zusammen und erstellen auch eigene Arbeitsblätter:

7. Klasse: Halte ein Referat über eine Person, ganz egal, wofür sie berühmt war. Vorschläge: Erfinder, Entdecker, Politiker oder Frau
#findedenfehler
Fazit:
Die Rosa-Hellblau-Falle gehört zum Schulalltag, denn enge Rollenbilder und der Unconscious Bias beeinflussen unser aller Tun, wieso sollte das vor der Schule Halt machen. Und deshalb muss die grundlegende Kritik an die Bildungsministerien gehen!
Es ist nicht akzeptabel, die Aufgabe „Mit Kindern über Rollenbilder diskutieren“ in Lehrpläne aufzunehmen (Steht so in den Bildungsgrundsätzen / Bildungsplänen aller Bundesländer mehr oder weniger explizit), sich aber in der Ausbildung von Lehrkräften auf den Zufall zu verlassen und keine verpflichtenden Seminare für alle angehenden Lehrkräfte einzuführen. Geschlechterreflektierte Pädagogik, diskriminierungsfreien Schreiben und Formulieren, AntiBias-Ansätze müssen Thema in der Ausbildung aller angehenden Lehrkräfte sein. Aber solange das Anliegen, Alltagssexismus entgegenzuwirken, so weit unten steht auf der Liste der Bildungsziele, solange Wahlfreiheit in Bezug auf Geschlechterrollen nicht endlich wichtiger genommen wird in der Ausbildung von Kita-Fachkräften und Lehrkräften, wird es noch ein langer Weg bis zur Geschlechtergerechtigkeit.
